Der Schulweg
von Doris Ottlitz, Am Wiesenhang 15, 61462 Falkenstein
Wir hatten uns nun schon vier Jahre in dem neuen Haus eingelebt – unterdessen war ich 7 Jahre alt -, und im Jahr 1930 sollte der Ernst meines verspielten Lebens beginnen. Die Streifzüge durch das Maisfeld des Bauern Fenske, mit Resi und Günther Nickel und der Bauer fluchend hinter uns her – Herumstrolchen durch die landwirtschaftliche Schule, und Frau Nickel, der Zerberus, der uns verfolgte. Die Schule sollte für mich beginnen, und ich hatte meine neue Rolle als »Schülerin der Evangelischen Stadtschule« anzutreten.
Ich könnte mir denken, dass ich mich auf diese neue »Beschäftigung« gefreut hatte, schließlich war Gertrud, die Tochter des Landwirtschaftslehrers Dr. Henkemeyer, unsere Anführerin in allen Spielen, schon ein oder zwei Jahre in der Schule, und immer die »Kleine« zu sein, passte mir sicher nicht. Die Stadtschule – in einem großen Komplex die Katholische Schule und die Evangelische Schule. Ja, damals war das noch streng getrennt. Die Schule lag dort, wo wir früher gewohnt hatten, in der Hindenburgstraße. Heute werden die kleinen Schulkinder von ihren Eltern per Auto in die Schule gefahren – ich musste nun die ganze Stadt durchqueren – und das war ein ganz schön weiter Weg gen Westen. Das hatte ich schon festgestellt, als Mutti mich bei Herrn Rektor Pöpping, vorgestellt hatte. Der Rektor Pöpping war ein kleiner Herr mit weißem Spitzbart und einem Zwicker auf der Nase, der es sehr schätzte, mit meiner Mutter, einer eleganten Dame, zu plaudern und infolgedessen stand ich während meines Besuches in seiner Schule immer unter dem wohlwollenden Blick dieses auch mir sehr gewogenen Herr Rektors. Weit erschien mir der Weg bis hinaus in die Hindenburgstraße, weil ich an vielen Häusern und Plätzen vorbeikam, aber wenn ich heute nachmesse auf einem Stadtplan aus diesen Jahren, dann hatte ich doch nur eineinhalb Kilometer zu laufen. Aber das Bummeln vor den Schaufenstern mit eingerechnet, war es vielleicht ein Weg von einer halben Stunde.
Wenn wir heute die kleine Dorli – die immerhin die Größte in der Klasse war -, auf ihrem Schulweg begleiten, lernen wir ein Gutteil der Stadt kennen.
Aber beginnenwir mit dem Anfang eines solchen Schultages unserer Heldin. Anna oder Ida kommen ins Kinderzimmer und wecken mich leise. Schlafend geht es ins Badezimmer, zum kalten Abwaschen, wohl nur das Gesicht. Im Sommer kommt über die Höschen das handgewebte blaue Leinenkleid mit einer breiten Borte am Saum und natürlich Puffärmel, oder ein quergestreiftes Hängerkleidchen oder mit angekraustem Rock und viel Perlmutterknöpfen – damals waren das tatsächlich noch Knöpfe aus echten Muscheln.
Gefrühstückt wurde in der Küche – die Kinder zusammen mit Ida-Anna. Immer Marmeladenbrot ohne Butter und immer Kakao, auf der weißen Holzbank an dem großen weißen Küchentisch vor dem Fenster. Der Blick ging auf unseren kleinen quadratischen Hof, der immer im Schatten zu liegen schien, bis zu dem großen Hof, wo der riesige gemauerte Müllkasten stand. An den großen Hof schloss sich unser Gemüsegarten mit den Spargelbeeten an – Papas Hobby. Dann, durch einen Drahtzaun getrennt, die Versuchsfelder der landwirtschaftlichen Schule.
In die kleine Brottasche aus Leder packte unsere gute Anna das Schulbrot – sicher war es nur mit Teewurst oder Schmalz bestrichen. Mutti war unterdessen heruntergekommen in einem blauseidenen Morgenrock mit gerüschtem Kragen; gab den Abschiedskuss und schob mich zur Vordertür hinaus. Ich rannte los, um den Birkenplatz herum, an der Fenskeschen Scheune vorbei. Das Fenskesche Wohnhaus, um das ich rechts herumlief, war, zur Straße gerichtet, ein typisch preußischer Bauernhof mit Mittelachse. Es lag fast ebenerdig, nur ein bis zwei Stufen führten zu einem kleinen Podest hinauf. Rechts und links niedrige gemauerte Brüstungen, und davor zwei rund geschnittene rot blühende Bäume. Hier hatte das Mädchen schon früh am Morgen Milch geholt. So hing ein warmer Milchduft immer in dem dunklen Flur, der durch das Haus in den Hof führte. Rechts lag die gute Stube, die Küche gegenüber zum Hof hinaus. Hier haben wir uns oft herumgedrückt. Frau Fenske war eine große, freundliche Frau. Nur der Bauer war oft barsch mit uns, wenn wir wieder einmal in seinem Maisfeld Versteck gespielt hatten. Die harten Blätter rauschten so schön wie ein Palmenwald. Der Bauer wiederholte wohl hundertmal in der Saison sein Verbot, in das Maisfeld zu laufen.
Gegenüber auf der Straße hatte in einem zurückliegenden Häuschen ein Schuster seine Werkstatt eingerichtet – gleich neben dem Haus von Lolo Lange. Daneben lag die Schreinerei. Der Schreiner war ein interessierter Möbelschreiner und setzte seinen Ehrgeiz ein, die letzten modernen Möbel der deutschen Werkstätten nach Fotos nachzuarbeiten, die meine Mutter aus Berlin mitbrachte. So gibt es heute noch den Tisch von diesem Schreiner und bis vor kurzem ein niedriges Bücherbrett und einen kastenartigen Sessel. Ein Rest des Stoffbezuges ist als kostbare Reliquie in einem Bilderrahmen aufgehoben.
Wenn ich die Klemannstraße, die zum Ostbahnhof führte, überquert hatte, denn das war noch gefahrlos – so viele Autos gab es noch nicht – fuhr aus dem Hof des »Getreidejuden Cohn«, vielleicht gerade ein schwerer Lastwagen mit den Getreidesäcken heraus, zur Eisenbahn oder auf dem Weg nach Frankfurt an der Oder oder sogar bis Berlin. Gegenüber eine schmale Treppe zum Herrenfriseur. Papas Figaro. Hier mussten wir immer, das speziell für Papa georderte Mundwasser abholen. Das Bild der original gebogenen weißen Flasche mit blauen Papier, Odol, das wir heute auch noch kennen, ist für ewig mit diesem engen Friseurladen verbunden.
Dann ging es an der Pieta vorbei, links der Schloss-See und dann die Königsstraße hinauf. Ja, es ging tatsächlich von diesem neueren Stadtteil hinauf zur eigentlichen Altstadt, die ja auf der schmalsten Stelle zwischen den Seen lag – 1303 durch die Tempelritter gegründet. Hier begann das, was man Geschäftsstraße nennen konnte. Rechts und links Lebensmittelgeschäfte, die Apotheke, die Drogerie, der Fleischer Busch. Ich musste mich entscheiden, ob ich rechts die Abkürzung über die Straße nehmen sollte, die über die Synagoge führte, oder ob ich noch ein Stück weiter die Königsstraße hinauflaufen sollte bis zum Poetensteig.
Denn nicht das Quartier um das Rathaus – eben auf dem Buckel – war auch die attraktivste Straße, sondern das war eben dieser Abschnitt Königsstraße.
Hier stand die pompöse Post, 1891 im gotisierenden Stil errichtet mit einem Giebel zur Hauptstraße und einem Eckturm in farbig gebranntem roten Klinker und farbig gebrannten Dachziegeln. Im Jahre 1841 erhielt die Posthalterei 42 Pferde für die Postkutschen von Berlin nach Königsberg, die hier gewechselt wurden.
Als dann 1881 die Eisenbahnstrecke von Schneidemühl nach Deutsch Krone führte, hatte der Posthalter nur 3 Postillione und fünf Pferde, die die Verbindung mit Deutsch Krone und dem Umland aufrechterhielten. Die Erschließung der östlichen Provinzen durch einen geregelten Postverkehr, konnte erst nach und nach eingerichtet werden, nachdem Friedrich der Große die ersten Schloss-See-Bauten befahl.
Die Königsstraße führte von der Post an – beim Kolonialwarenhändler Heidrich – bis eben zu dem Punkt, wo die Straße den kleinen Wassergraben überquerte, also bis zu Gramses Papierhandlung und der Zeitungsverlag. Ich lief um die Ecke hinter der Bäckerei Hettge nach rechts – eben entlang des Grabens – und auf dem Poetensteig (im Gedenken an den Dichter Heinrich von Kleist, der einige Jahre Schüler der Jesuitenschule war) bis zu dem Sarggeschäft gegenüber von der Baugewerkschule in die Bismarckstraße.
Und dann sah ich auch bald links den roten schweren Schulkomplex. Ein roter Klinkerbau im gotisch/romanischen Mixstil – das war wohl die Erinnerung an die Tempelritter. Unter einer bewegten Dachlandschaft, aber doch gemeinsam waren die katholische und evangelische Abteilung als »Zentralschule« 1905 vereint.
Ich ging in die evangelische Abteilung, die unmittelbar an der Ecke lag. Zwischen den evangelischen und katholischen Kindern gab es, sobald sie auf dem Schulhof waren, eine gewisse Rivalität – möglicherweise gab es sogar einen Drahtzaun zwischen katholischem und evangelischem Hof. Wir evangelische Kinder sagten: Die Katholen können lügen, so viel sie wollen, denn in der Beichte werden ihnen alle Sünden verziehen. Während wir protestantische Kinder zur Ehrlichkeit verdammt sind, weil der liebe Gott auf uns Sünder mit zürnendem Blick wissend herunterschaut.