Historische Gedenkreise
durch Hinter- und Vorpommern
…mit meinem Enkel zu den Stätten der Erinnerung (Reise vom 11.07.2011 bis 16.07.2011)
von Christian Henke, Griechische Allee 39, 12459 Berlin
Das gemeinsame Interesse an dieser Reise war groß und bestand schon längere Zeit. Der erste Jahresurlaub des 20 jährigen Azubi im Juli 2011 bot nun die günstige Gelegenheit, dem Angebot des Großvaters und dem lang gehegten eigenen Reisewunsch Folge zu leisten. Die oft gehörten Erzählungen über das Land jenseits der Oder – das einmal Deutschland war und Hinterpommern oder auch Ostpommern hieß – hatten neugierig gemacht auf die Stadt und die Umgebung, aus der die Vorfahren väterlicherseits kamen. Aber auch der Teil der Provinz Pommern, der heute wie früher noch Vorpommern heißt und durch die Gnade der Alliierten nach dem II. Weltkrieg Deutschland bleiben durfte, sollte wunschgemäß besucht werden. War es doch die Region, in die im Januar/Februar 1945 viele Bewohner evakuiert wurden. Die Kreise Demmin und Grimmen wurden bereits im Januar 1945 „planmäßig“ zu Aufnahmekreisen für die zu Evakuierenden aus dem ca. 30 Km breiten Verteidigungsraum der so genannten Pommernstellung bestimmt. Das Zentrum dieses mehr als 100 km langen Befestigungssystems war die Stadt Deutsch Krone, das heutige Walcz. Sie war auch der Sitz des Festungskommandanten Generalmajor Voigt. Die Flucht der Familie Henke begann am 28.01.1945 abends im Güterzug vom Ostbahnhof von den Gleisen links des Straßenübergangs Richtung Sagemühl/Jastrow und endete nach einer Woche in Kirchdorf/Kreis Grimmen Post Miltzow.Hier in Vorpommern begann für die nicht gern gesehenen Flüchtlinge ein dornenreicher Neubeginn. Die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat zerschlug sich, als auf der B 96 enttäuschte und geplünderte Rückkehrwillige sich wieder in Richtung Stralsund bewegten. Ihnen waren an der Oder von den neuen Machthabern die Rückkehr in die Heimat verwehrt, die letzten Habseligkeiten genommen und nur das Leben gelassen worden. Wir blieben also, wo wir waren.1948 kam die Nachricht, dass mein Vater als Deutsch Kroner Volkssturmmann am 2. Mai 1945 in einem Gefangenenlager in Charkow/Ukraine verstorben ist. Als Halbwaisenkind einer alleinstehenden Mutter begann nach dem Schulabschluss der 7. Klasse (ein Jahr durch die Flucht und den Neubeginn versäumt) der Weg ins Leben. Er führte mich über eine wegen TBC-Erkrankung abgebrochene Lehre über Arbeitslosigkeit, über ein Studium an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät Greifswald und ein anschließendes Hochschulstudium der Ökonomie in Berlin zur 32 Jahre währenden Tätigkeit im Berliner VEB Kabelwerk Oberspree (KWO). Die Sehnsucht nach der alten Heimat blieb. Bereits im Oktober 1958 erfolgte der erste Besuch meiner Geburtsstadt. In den folgenden Jahrzehnten wurden in Abständen teils allein, teils mit Familienangehörigen die Besuche wiederholt.So konnte das Wachsen und Werden der Stadt Walcz aufmerksam beobachtet werden. Es ist erfreulich, feststellen zu können, dass die Stadt besonders in den Jahren nach der Wende einen rasanten Aufschwung genommen hat. Das 700 jährige Stadtjubiläum im Jahr 2003 hat sicherlich entscheidend dazu beitragen. Der rekonstruierte Markt mit dem geschmackvollen Brunnen (an dem auch gebürtige Deutsch Kroner ihren Anteil haben) ist ein Kleinod, das sich sehen lassen kann. Er war Teil meines Schulweges. Meine Wiege stand gleich nebenan in der Berliner Str. 1. Hier steht seit einigen Jahren endlich ein schmucker Neubau, der die seit 1945 bestehende Ruinenfläche schließt. Die Stadt ist bunter, aufgeräumter und schöner geworden. Das alte Deutsch Krone ist in seiner Grundsubstanz bewahrt und gepflegt worden. Das polnische Walcz mit seiner seen- und waldreichen Umgebung ist eine Reise wert. Mit dem Ziel, auf den Wegen der Erinnerung des Großvaters zu wandern und im neuen Polen Land und Leute näher kennen zu lernen, machten sich der demokratisch gesinnte Jungeuropäer und der mit z.T. noch alten Traditionen behaftete Großvater und Zeitzeuge auf die 6 tägige Reise. Es wurden ca. 1350 km zurückgelegt.Verlauf der Strecke: ab Berlin ehemalige Reichsstr. 1 bis Seelowdurch das Oderbruch, Besichtigung Altstadt Küstrindurch das Warthebruch über Gorzow/Landsberg nach Walcz / Deutsch Kronenach Kolberg über Tempelburg, Draheim, Pommersche Schweiz, Bad Polzinentlang der Ostseeküste über Dievenow, Insel Wolin, Misdroy, Wolin, Autobahn Stettin-Kolbaskowo/PomellenA 20 Abzweig Stralsund nach Stahlbrode; Quartier im „Fährhaus“Ausflüge nach Stralsund, Greifswald, Reinberg, Kirchdorf, GristowRückfahrt nach Berlin über A 20 und A 11/10
erste Station – Gedenkstätte Seelower Höhen
Dieser Ort ist die einzige Gedenkstätte mit einer ständigen Ausstellung, die sich auf einem authentischen Schlachtfeld des II. Weltkrieges auf deutschem Boden befindet. Während der Kämpfe vom 31. Januar bis zum 19. April 1945 um die sowjetischen Brückenköpfe im Oderbruch fanden zehntausende Soldaten beider Seiten den Tod. Die einzigartige Kulturlandschaft wurde nachhaltig zerstört.Die Gedenkstätte erinnert an das letzte zusammenhängende deutsche Verteidigungssystem vor Berlin und den unter ungeheuren Opfern erzwungenen Durchbruch ab dem 16. April 1945 – Beginn der sowjetischen Großoffensive.Im einzigartigen Zeitzeugenarchiv werden persönliche Erinnerungen von Teilnehmern dokumentiert.Dies spricht besonders die junge Generation an. Künftig, wenn sich die Erlebnisgeneration einmal verabschiedet hat, wird die Bedeutung dieses Erlebnisortes weiter wachsen. Mahnend wird künftigen Generationen gezeigt, dass Krieg kein Mittel zur Lösung politischer Probleme ist.
zweite Station – Altstadt Küstrin
Die meisten Besucher dieser alten preußischen Festungsstadt an der Oder kennen Küstrin (heute Kostrzyn) nur von der Durchreise oder vom günstigen Einkauf auf dem sogenannten Polenmarkt.Die Altstadt ist den meisten unbekannt. Sie liegt etwas abseits des Weges der Fernverkehrsstraßen nach Stettin, Danzig oder Posen. Um es vorweg zu sagen, es gibt sie auch als Stadt gar nicht mehr. Im Gegensatz zu anderen Festungen, die meist am Rande von Städten liegen, befindet sich die Altstadt von Küstrin innerhalb der noch vorhandenen Festungsmauern an der Oder. Wir betreten die Altstadt durch das mächtige Berliner Tor und sehen kein Gebäude, keine Kirche, kein Schloss, keinen Marktplatz. Es empfängt uns eine stark mit Strauchwerk überwucherte Ruinenlandschaft. Straßenschilder geben uns Orientierung durch zu ahnende Straßen, die von kniehohen Fundamenten mit z.T. erkennbaren Hauseingängen oder Kellerfenstern gesäumt werden.Sollten hier wirklich mal Menschen gewohnt haben, eine Straßenbahn gefahren sein, sich tragische preußische Geschichte abgespielt haben? Man denkt zwangsläufig an Pompeji und Herculaneum, wo 79 n. Chr. Naturgewalten Wohnstätten verschwinden ließen (wodurch heute glücklicherweise seltene Kulturgüter zu Tage gefördert werden). Was man aber hier ringsherum sieht ist willkürliche Zerstörung durch Menschenhand. Es ist schwer vorstellbar, dass hier im Herzen Mitteleuropas noch im 21. Jahrhundert, fast 70 Jahre nach dem 2. Weltkrieg solch geschlossenes Ruinen-Städtchen ohne menschliche Bewohner darin existiert. Bescheidene Restaurierungsarbeiten an den Festungsmauern, den Bastionen und in den Kasematten können wir entdecken, ansonsten keinerlei Bebauung der Altstadt innerhalb der Festungsmauern. Einige Informationstafeln in polnisch und deutsch verweisen auf bedeutende ehemalige Bauwerke oder gesellschaftliche Ereignisse z. B. auf die Katte-Geschichte.Gedankenversunken verlassen wir diesen gruseligen Ort und fragen uns nach seiner Zukunft. Die Fahrt geht durch das Warthe-Bruch – dieses riesige Bio-Reservat – in Richtung Osten. Bald liegt Gorzow (Landsberg a.d.W) hinter uns, und wir erreichen in Schloppe den ehemaligen Kreis Deutsch Krone.
Bald grüßt uns hinter Stranz das Blau des Stadtsees und das Grün des Buchwaldes. Da wir uns auskennen, ist unser Reiseziel das Wassersporthotel „Mosir“, Chlo-dna 12, schnell erreicht.
Hier, wo sich früher die Militärbadeanstalt und stadteinwärts Bootshäuser befanden, begrüßt uns mein geliebter Stadt-See. Von Gegenüber winkt der etwas entstellte Wasserturm mit der immer noch existierenden städtischen Badeanstalt, allerdings ohne den imposanten Sprungturm von 5 m Höhe.Hier lernte ich sehr früh schwimmen und holte mir manchen Sonnenbrand. Nach einigen Verständigungsschwierigkeiten checken wir ein, beziehen unser sportlich eingerichtetes Zimmer und erkunden das angenehme Umfeld mit der großen
Seespaziergänge
Es zieht mich in die Stadt. Gleich hinter dem gepflegten Gelände des Sporthotels Richtung Stadt beginnt die perspektivische Seepromenade in Ufernähe. Ein Großvorhaben zur Verschönerung der Uferzone des Stadt-Sees, das man sich etwas kosten lässt. Die Seen sind schließlich die Kleinodien der Stadt und kennzeichnen ihr Antlitz. Die ersten hundert Meter befestigten Promenadenweges sind bereits verlegt. Der weitere Weg am See entlang bis hin zur Molkerei-Ruine ist dem Spaziergänger nicht zu empfehlen. Bagger und Planierraupen haben hier ganze Arbeit geleistet. Wir überqueren das Mühlenfließ und begeben uns bergauf über die Mühlenstraße zum Markt. Diese Straße war unser kleiner Rodelberg – gleich vor der Haustür mitten in der Stadt. Sie war aber auch mit der Partie am Markt und dem Hornriff mein Schulweg zur Zentralschule. Vom Markt sind es nur wenige Schritte bis zur Berliner Str. 1 – meiner Geburtsstätte. Die Straße – Bestandteil der ehemaligen Reichsstraße 1 von Aachen nach Königsberg – heißt heute Al. Zdobywcow Walu Pomorskiego (Allee der Überwinder des Pommernwalls). Wir stehen vor einem neu erbauten Wohn- und Geschäftshaus mit 3 Gauben im Dachgeschoss.
Nach einem Blick in das veränderte Innere der katholischen Kirche wird meinem ehemaligen Kindergarten bei den Grauen Schwestern ein äußerlicher Besuch abgestattet. Das schön gelegene Gebäude wird von einer Handwerkerfirma genutzt. Die frommen Schwestern haben sich in ihr altes Haus gleich nebenan zurückgezogen.
Von diesem wohl höchstgelegenen Standort der Stadt (neben dem Brauereiberg) ging früher ein unbefestigter Fußweg zum Schlosssee hinunter, gesäumt von gepflegten Gärten. Zu meiner Freude wurde dieser Weg jetzt mit angenehmen Treppen neu gestaltet. Leider machen die Gartengrundstücke rechts und links dieses romantischen Pfades einen etwas ungepflegten Eindruck, was den schönen Blick zum See von diesem einmaligen Balkon der Stadt stark beeinträchtigt. Wir schlendern Richtung ehemalige evangelische Kirche auf der Schlossseepromenade entlang. Sie ist ein ruhiger Fuß- und Fahrradweg ins Zentrum der Stadt. Unser Ziel ist das ehemalige Grundstück meiner Großeltern. Es befand sich hier am Schlosssee direkt hinter der Ludwigsbrücke, die Ende der 30er Jahre abgerissen und durch einen aufgeschütteten Weg mit stabiler Uferbefestigung ersetzt wurde. In dem nicht mehr vorhandenen einfachen Fachwerkhaus wurden 1892 mein Vater und später seine 8 Geschwister geboren. Stellmachermeister Hugo Henke zog von hier 1911 auf sein neues Grundstück Königsberger Str. 57 und betrieb dort sein Holzverarbeitungsunternehmen.
Wir verlassen die idyllische Ecke am See mit ihren Scharen von Schwänen und Enten und spazieren über die Halbinsel Wusterhof (früher auch Amt genannt) vorbei am Haus der Franziskaner und am ehemaligen Siechenhaus. An der Straße, die heute Orla heißt, entstehen auf Grundstücken in schönster Seelage hübsche Einfamilienhäuser. Zurück über die Poststraße, vorbei am Regionalmuseum der Stadt Walcz, geht es rechts nochmals direkt am Ufer des Sees auf einem Plattenweg entlang zu der gepflegten Grünanlage in Nähe der Hauptstraße. Von hier hat man nochmals einen schönen Blick auf diesen Teil des Schlosssees mit der Halbinsel und der sprudelnde Fontäne im See. Vom Wandern hungrig geworden, suchen wir vergeblich nach einem Restaurant. Nach Befragung Einheimischer landen wir in einem Pizza-Keller in den Gewölben des damaligen Cafe Schmidt in der Königsstraße. Unser Warten wird mit einer überdimensionalen Pizza belohnt.
Besuch auf Großvaters Grundstück
Neben dem Vermitteln der landschaftlichen Schönheiten des Deutsch-Kroner Landes war mein Hauptanliegen dem Enkel vorzuführen, dass seine Vorfahren keineswegs die Habenichtse waren, für die sie von vielen Einheimischen damals gehalten wurden. Deshalb musste nach dem Besuch der unmittelbaren Stätten meiner Kindheit um die Berliner Straße und den Markt herum ein Abstecher zum Henkeschen Grundstück in der ehemaligen Königsberger Straße 57 unternommen werden. Sie heißt heute Wojska Polskiego. Von hier aus verließen wir – meine Großmutter, meine drei Tanten , meine Mutter, ich und ein gleichaltriger sogenannter Bombengeschädigter aus Bochum-Werne namens Josef Beumer am 28. Januar in einem Güterzug die Stadt. Der Flüchtlingszug wurde direkt gegenüber auf dem Gelände des Ostbahnhofs bereit gestellt. Das Wohnhaus und diverse Nebengebäude sind noch heute – einschließlich der Hausnummer 57 – vorhanden. Verändert hat sich gravierend der hintere Teil des 1 ha großen Grundstücks. Hier, wo sich früher ein großes Gartengelände mit einem beachtlichen Gartenteich befand, nimmt heute ein Netto- Supermarkt einschließlich Parkplatz das gesamte Areal ein.
Nach einigen Erläuterungen zur Familiengeschichte und hier selbst erlebten Storys betreten wir die geräumige Kaufhalle, erstehen ein Souvenir und eine kleine Flasche Zubrowka. Mit ihrem Inhalt gedenken wir abends im Hotel unserer Vorfahren, der tragischen Vergangenheit Preußens und der hoffentlich friedvollen Zukunft Europas.
Schulzeit in Deutsch Krone
Bleibende Erinnerungen verbinden sich mit dem Schulbesuch in der Volksschule für Knaben in der 1903 erbauten Zentralschule. Dieser, zu seinem 100. Gründungsjahr hervorragend renovierte Gebäudekomplex, ist ein sehenswertes Kleinod der Stadt und ein Muss für jeden Besucher.
Von 1940 bis 1944 besuchte ich diese Schule. Die Appelle, auf dem mit großen Ebereschenbäumen bestandenen Schulhof anlässlich der Sondermeldungen zu den deutschen Siegen an allen Fronten, liegen mir heute noch in den Knochen. Beim Absingen der Lieder fehlte meinem rechten Arm die nötige Muskelkraft, der linke musste dann unterstützend helfen. Heute befindet sich in dem Gebäude das 2. städtische Gymnasium mit dem Namen Robert Schuman, eines Vordenkers und Mitbegründers der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im Eingangsbereich ist – links gut angepasst an den innenarchitektonischen Stil des Hauses – sein Bildnis und ein Zitat von ihm zu sehen. Es ist der Aufgabe und der Verpflichtung dieser Bildungsstätte gewidmet. Obwohl Schulferien sind, werden wir von einer freundlichen Sekretärin hinein gebeten. Sie zeigt uns die wunderschöne Innenarchitektur, die gut restaurierten Sprichworte in deutscher Sprache in den verschiedenen Stockwerken, z.B. „Arbeit macht das Leben süß“. Höhepunkt sind die mir bisher unbekannten farbigen Darstellungen im ehemaligen Eingangsbereich der Mädchenschule. In Halbbögen im Treppenflur grüßen Motive aus den Märchen „Dornröschen“ und „Hänsel und Gretel“.
Stark beeindruckt von Sauberkeit und Ordnung verlassen wir mit einem großen Dankeschön das Haus.Nach einem Besuch in der Infostelle im modern restaurierten Rathaus am Markt begeben wir uns Richtung Gymnasium durch die Rathsstraße. Hier war zu meiner Zeit die Polizeiwache im Bereich des Rathauses untergebracht. Es befand sich ein ausgebauter Luftschutzkeller darin, den wir bei Fliegeralarm aufsuchen mussten. Der nächtliche Weg von der Berliner Str. 1 über den Markt ist mir noch gut erinnerlich. Erfreulicherweise fielen in der Stadt keine Bomben.
Besuch des Gymnasiums
Der gesamte Komplex des traditionsreichen Schulgebäudes an der ehemaligen Königsstraße ist stilvoll und umfassend renoviert worden. 1944 bestand ich hier die Aufnahmeprüfung an der „Oberschule für Knaben“. Der ab September 1944 vorgesehene Unterricht fiel jedoch völlig aus, weil ab August 1944 das Haus mit vorwiegend aus Vorpommern (Uni Greifswald) dienstverpflichteten „Schippern“ belegt wurde. Wir Gymnasiasten in spe durften anstelle von Unterricht im Wehrertüchtigungslager am Schlossmühlenweg Faschinen für die Schützengräben der erweiterten Pommernstellung flechten, Heidekraut für den Behelfshausbau (Lehmbauten) schneiden oder Bucheckern sammeln. Erst nach Eintritt der Frostperiode wurde das Haus für Schulzwecke wieder frei geräumt. Anfang 1945 wurde für einige Tage der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Ab Mitte des Monats näherte sich bedrohlich die Front, und die Feldgrauen belegten die Räume. Ich sah die Einquartierung in der Aula. Bei unserer Visite liefen wir dem Direktor über den Weg. Er zeigte uns stolz das renovierte Haus, in dem nur noch eine Gymnasialklasse existiert. Auf unseren Wunsch wurde die Aula aufgeschlossen, ein gekonnt renovierter Raum in schönen Farben. An der Rückwand prangte das uns allen bekannte Wappen der Stadt – ebenfalls farblich neu gestaltet. Beim anschließenden Spaziergang durch die gepflegten Außenanlagen wies man uns auf die restaurierte Inschrift an den beiden Giebeln zur Hofseite in Deutsch und Polnisch hin. „Umbau und Erweiterung A. D. 1908“Auch ein Hinweis auf das Königin-Luise-Zimmer fehlte nicht. Die beliebte preußische Königin hatte auf ihrer Flucht nach Tilsit vor den napoleonischen Truppen 1806 mit ihren Kindern in diesem Haus übernachtet. Nach dem Besuch des Katholischen Friedhofs, auf dem sich noch bei meinem 1. Besuch im Oktober 1958 das geschändete Grab meines Großvaters befand, führt unserer Weg zum Windmühlenberg. Auf ihm wurde in den 60er Jahren das erste polnische Hotel in Wałcz namens „Widok“ in bester Lage oberhalb des Stadtsees errichtet. 1972 hatten wir in diesem besten Hotel am Platze einen 14 tägigen Aufenthalt gebucht. Er musste leider abgesagt werden, da über das Haus Quarantäne wegen Ruhrverdachts verhängt worden war. Wir fanden in der Nähe ein Privatquartier.Das schön gelegene ehemalige Hotel hatte ein kurzes Leben. Die Ruine ist heute ein Bild des Jammers, und es wäre dem Image der Stadt zu wünschen, wenn hier ähnlich wie im Buchwald, ein attraktives Hotel die Anhöhe am Radun-See zieren würde.
Vorbei an der maroden Freilichtbühne geht es die Treppen hinunter zum See. Von dem Rodelberg der Deutsch Kroner Kinder rechterhand ist durch Bebauung nichts mehr zu erkennen. Die alte städtische Badeanstalt, in der ich sehr jung schwimmen gelernt hatte, existiert gottlob noch und erfreut sich regen Zuspruchs. Über den verwilderten ehemaligen evangelischen Friedhof geht es zurück zu unserem Parkplatz in der Nähe des Krankenhauses. Unterwegs erregt unsere Aufmerksamkeit ein gepflegter Findling. Die saubere Inschrift erinnert an “Major Erich Dose“.
Experiment am Magnetberg und Exkursion in den Großbunker im Galgenberg
Der rätselhafte Magnetberg zwischen Stranz und Harmelsdorf ist immer einen Ausflug und ein Experiment wert. Bereits im Jahr 2009 hatte ich mich mit einem Studienfreund, der Vermessungstechnik studiert hat, diesen ominösen Berg besucht und mit den geeigneten Messgeräten versucht, sein Geheimnis zu lüften. Ergebnis: Es handelt sich um eine optische Täuschung. Es gibt ein leichtes Gefälle der Straße in Richtung Stranz. Trotzdem haben alle Besucher den Eindruck, es gehe bergauf. Das auf die Straße gegossene Wasser läuft scheinbar bergauf und der PKW läuft mit voller Beatzung und abgestellten Motor tatsächlich bergauf. Ein Ereignis, das viele Besucher anlockt und immer wieder zu wilden Spekulationen Anlass gibt. Auch mein lieber Enkel ist beeindruckt und kann nicht glauben, dass es sich tatsächlich um eine optische Täuschung handeln soll.
Wir fahren weiter in Richtung Harmelsdorf (Rutwica) über die im Ausbau (Verbreiterung) befindliche Asphaltstraße.
Unser Ziel sind die Befestigungsanlagen der ehemaligen Pommernstellung im Raum Tütz (Tuczno) insbesondere das Bunkersystem bei Strahlenberg (Strzaliny) mit dem Großbunker im Galgenberg. Wir haben Glück. Vor dem gesprengten Eingang zur Bunkeranlage mit der 1,5 Meter starken geborstenen Betondecke sitzt neben einem PKW vom Typ Trabant ein junger Pole. Neben ihm läuft ein Notstromaggregat. Er bestätigt uns, dass die Anlage unterirdisch in einer Länge von über 300 Metern gegen eine Gebühr von 20 Zloty pro Person zu besichtigen sei.
Einige Personen erschienen soeben aus der Unterwelt und ermunterten uns hinab zu steigen. Es war ein spektakuläres Unterfangen. Über ein Gewirr von Betonbrocken, gespickt mit verrosteten Moniereisen ging es abwärts in einem Treppenschacht bis zu einer Tiefe von 12 – 15 Meter. Eine Notbeleuchtung spendete ein spärliches Licht in gespenstischer Atmosphäre. Wir stolperten durch ca. 3 Meter hohe ovale Betonröhren. Von ihnen führten Abzweigungen zu Aufenthaltsräumen, Beobachtungsständen, Munitionslagern, Notausgängen, Aufzügen und gepanzerten Kampfständen. In der Unterwelt waren immer wieder Spuren von Sprengungen zu diesen gesperrten Abzweigungen zu entdecken, so dass sich unser Weg vorwiegend gradlinig durch den Berg erstreckte, unterbrochen von gefährlichen Rudimenten erfolgter Sprengungen. Nachdem wir den langen Weg durch das Bunkerlabyrinth retour wieder ohne Blessur zurückgelegt hatten, entstiegen wir glücklich dem Betongewirr. Der polnische Veranstalter versah mit einem großen Vorhängeschloss die Stahlgittertür, schaltete das Notstromaggregat ab, verlud es in seinem Trabant und verließ donnernd sein Unternehmen. Hinweis: Die Besichtigung war sehr interessant, ist aber älteren Personen nicht zu empfehlen!
Der Pommernwall
Der Pommernwall soll zur Touristenattraktion werden. Deutsch Krone war das Zentrum der Pommernstellung. Sie wurde ab Mitte 1944 durch ein dichtes Netz von Feldbefestigungen (Schützgräben, MG-Nestern, Panzergräben etc) durch massiven Arbeitseinsatz von Zehntausenden so genannter „Schipper“ in ihrer Gesamtlänge von über 150 Kilometern erweitert. In dem bereits in den 30 Jahren geschaffenen Betonbunker-System war die Stadt auf eine Rundumverteidigung eingerichtet. Diese Überlegungen der 30er Jahre hatten im Januar 1945 bereits ihre strategische Bedeutung verloren. Trotzdem kam es im Januar/Februar im Bereich dieses Stellungssystems zu blutigen Kämpfen. An der Seite der Roten Armee kämpfte die 1. polnische Armee. Die doppelten Schwerter und diverse Erinnerungstafeln erzählen von den harten Kämpfen.Zur Stärkung des Nationalbewusstseins, besonders bei der polnischen Jugend, und eventuell auch zur Förderung des Tourismus., versucht man heute dem „Wall pomorski“ eine besondere historische Bedeutung zukommen zu lassen. Diverse Veröffentlichungen, Wanderrouten, Besichtigungsprogramme, Führungen, Ausstellungen etc. sollen auf die blutigen Kämpfe aufmerksam machen.
In der ehemaligen Artillerie-Kaserne an der Straße nach Jastrow wurde soeben ein neues privates Museum eröffnet, in dem zum Sehen und Anfassen Massen von Erinnerungsstücken und Ausrüstungsgegenständen beider kämpfenden Seiten von damals bestaunt werden können. Hinter dem Gelände der verschwundenen ehemaligen Kalksandsteinfabrik Richstein bemüht man sich sogar zwischen den gesprengten Bunkerruinen trassierte Wanderwege anzulegen! Die Eroberung der Stadt im Februar 1945 soll hier als Historientheater sogar nachgespielt werden. Außer ein paar Abenteurer wird hier wohl kein Tourist lustwandeln. Wir interessierten uns für diese Gegend, weil mein Vater im Januar 1945 als Volkssturmmann in einem dieser Kampfstände kaserniert war. Als 11 Jähriger besuchte ich ihn, erlebte die „Bunkerromantik“ und war von den Anlagen stark beeindruckt.
Richtung Kolberg
Nach einem erfrischenden Bad in meinem geliebten Stadtsee und bei strahlender Morgensonne begeben wir uns auf die Reise zur Ostseeküste. Am westlichen Stadtrand der Stadt Kotobrzeg ( Kolberg ) haben wir im Landgasthaus „Anna“ ein Quartier gebucht. Zwischenhalt machen wir in Stare Drawsko (Alt Draheim) an der Seeenge zwischen dem Drawskie-See und dem Zerdno-See. Hier befindet sich die Ruine einer Templer-Burg.
Sie ist innerhalb ihrer verwitterten Mauern als Mittelalter-Museum eingerichtet und gegen Eintritt zu besichtigen. Der Eintritt lohnt sich. Von ihren hohen Mauern hat man einen wunderbaren Weitblick über Wasser und Wald. Weiter geht die Fahrt durch die schöne Hügellandschaft der Pommerschen Schweiz. Nach 26 Kurven, vorbei an idyllischen Seen erreichen wir Bad Polzin (Potczyn Zdroj). Seine Brauerei stellte damals wegen des guten Wassers das beste Bier in Pommern her. Auch heute produziert sie noch unter dem Namen „Brok“. In den frühen Nachmittagsstunden erreichen wir nach kleineren Irrfahrten wegen Verständigungsschwierigkeiten und ohne Navi unser Quartier. Der Strand der Ostsee ist gut zwei Kilometer entfernt und mit dem Auto nicht zu erreichen. Wir ziehen es vor, die Stadt zu besichtigen und dort den Strand zu besuchen. Ort und Strand sind voller Menschen, es ist Hochsaison und die Sonne scheint. In Bahnhofsnähe sitzen Frauen und Männer auf Bänken und bieten auf großen Schildern freie Zimmer an.
Nach Vorpommern
Die Fahrt von Kolberg entlang der Ostsee nach unserem neuen Quartier in Vorpommern verlief anders als geplant. Ein Stau vor der Fähre bei Swinemünde zwang uns, die Insel Wolin zu verlassen und die Autobahn um Stettin herum zum Grenzübergang Pomellen zu benutzen. Über die A 20 gelangten wir schließlich zu unserem Quartier im Fährhaus Stahlbrode – am Sund zwischen Greifswald und Stralsund gelegen.Diese Gegend war mir nach der Flucht zur Zwangsheimat geworden. Am 4. Februar wurden wir nach 7- tägiger Reise in das Gutshaus Antze in Kirchdorf eingewiesen. Sieben Personen bezogen einen 18 m² großen Raum inclusive einer Strohschütte als Schlafstätte, Toilette und Pumpe auf dem Hof, Gemeinschaftsherd für 7 Familien außerhalb unseres Giebelzimmers. Hier erlebten wir die letzten Kriegsmonate unter schwierigen Bedingungen und den unwürdigen Einmarsch der Roten Armee am 30. April 1945. Die damit verbundenen Eindrücke und Erlebnisse sind unvergessen. Dass es sich um eine Befreiung von einer Diktatur durch eine andere handelte, wurde mir erst Jahrzehnte später bewusst.Von all den Erlebnissen und bedeutenden Ereignissen im Vorpommern der Nachkriegsjahre sind mir noch heute einige besonders gegenwärtig. Sie haben mein Denken und Handeln maßgeblich beeinflusst. Hierzu zählte z.B. eine Stellmacherlehre, die keine war, mit einem 12-stündigen Arbeitstag, vorwiegend als Knecht in der Landwirtschaft. Sie musste wegen schwerer Tbc-Erkrankung abgebrochen werden, wodurch die Handwerkertradition der Familie Henke beendet wurde. Die Wiederherstellung der Gesundheit brauchte Jahre und stellte die Weichen neu für die berufliche Entwicklung.
Mein Weg ins Leben mit Hilfe der Arbeiter- und Bauern-Fakultät
Den meisten Heimatfreunden wird diese Bildungseinrichtung unbekannt sein. Die aus so genannten Vorstudienanstalten hervorgegangenen Arbeiter-und Bauern-Fakultäten (ABF) waren ab Beginn der 50-er Jahre offizielle Fakultäten von Universitäten und Hochschulen der DDR. Sie hatten die Aufgabe, talentierte Kinder des arbeitenden Volkes zu befähigen, ein Studium an einer höheren Bildungseinrichtung erfolgreich zu absolvieren. Die ABF, die in ihrer Zielstellung von den klassischen traditionellen Fakultäten der Universitäten abwich, gab vielen jungen Menschen (ehemaligen Soldaten, Flüchtlingskindern, Kriegswaisen etc.) eine einmalige Bildungschance. Hier hatten sie die Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Talente zu entwickeln und kriegsbedingte Versäumnisse in ihrer persönlichen Schulbildung zu kompensieren. Für das dreijährige Studium gab es ein Grundstipendium vom Staat in Höhe von 180,– Mark monatlich, bei guten und sehr guten Leistungen einen Leistungszuschlag von je 40,– Mark. In den Jahren 1952 bis 1955 erwarb ich an der o.g. Fakultät der Universität Greifswald die Hochschulreife. Diese drei Jahre waren prägend für mich. Eine vorwiegend humanistische Grundausbildung, vermittelt durch meist bürgerliche Dozenten verhalf uns wissens- und lernbegierigen Schülern zu einer guten Allgemeinbildung und logischem Denken. Beim späteren Fachstudium verschafften sich die ABF-Studenten wegen ihres Bildungsniveaus schnell den Respekt der klassischen Abiturienten. Als Fachleute bewährten sie sich in allen Bereichen der Volkswirtschaft. Mir ist kein Absolvent bekannt, der seine Perspektive in der sozialistischen Parteiarbeit sah, Kader für Partei und Staatsapparat wurden woanders ausgebildet. Alle mir bekannten Studenten der ABF bestätigen übereinstimmend, dass die ABF- Zeit für sie von höchstem Nutzen war und maßgeblich für ihren beruflichen Werdegang. Wir besuchten in Greifswald den jetzt öffentlichen Gebäudekomplex des ehemaligen NS- Luftwaffenlazaretts. Hier befanden sich zu meiner Zeit die Wohnblöcke des ABF- Internats und die Mensa. In der Franz-Mehring-Straße 52 – ca. 2 km vom Internat entfernt– waren die Klassenräume und die Fakultätsleitung in ehemaligen Kasernengebäuden untergebracht. Es war immer ein weiter Fußweg zu der goldenen Stätte der Wissensvermittlung.
Der Greifswalder Studentenprotest
Ein Ereignis während meiner Studentenzeit in Greifswald beschäftigt mich bis heute. Es ist der Protest der Studenten im März 1955 gegen die Einrichtung einer militärmedizinischen Sektion an der Medizinischen Fakultät ab September 1955. Greifswald hatte bis dato keinerlei militär- medizinische Tradition. Diese beabsichtigte Zwangsmaßnahme, durch die die Ausbildung ziviler Medizin-studenten ganz eingestellt werden sollte, beschäftigte das gesellschaftliche Geschehen in der Stadt gravierender als die Ereignisse des 17. Juni 1953. Diese waren damals nur vom Radiohören spürbar. Einen bewussten politischen Massenprotest gegen einen Beschluss des DDR-Ministerrates hat es m. E. bis dato an einer Universität der DDR nicht gegeben. Dies außergewöhnliche politische Ereignis mit seiner ominösen Randerscheinung ist es wert, in der Öffentlichkeitsarbeit der Stadt mehr Beachtung zu finden und dokumentiert zu werden. Selbst im Heimatmuseum gibt es keinen Hinweis darauf. Im Band 2 der Beiträge zur Geschichte der Universität kann man einiges nachlesen. Ein kurzer Abriss der Ereignisse:
Am Abend des 30. März 1955 kam es nach einem Vorlesungsstreik der Medizinstudenten zu einer Studentenversammlung in der Aula der Universität. Nachdem erkennbar wurde, dass es sich um eine FDJ – Veranstaltung handelte, löste sich die Zusammenkunft schnell auf. Die Studenten wurden beim Verlassen der Aula durch bereit stehende Polizeikräfte behindert, z. T. verhaftet und im nahe gelegenen Gefängnis inhaftiert. Es sollen bis zu 200 Verhaftungen erfolgt sein. Die meisten Studenten wurden nach Schikanen und Verhören in den nächsten Tagen wieder entlassen, nach schriftlicher Erklärung zwecks Stillschweigen über das Erlebte. Einige blieben in Haft, wurden angeklagt und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.Neugierig gemacht durch die Ereignisse des Vortages und die unübersehbare Polizeipräsens in der Stadt, begab ich mich am frühen Nachmittag des 31. März 1955 ins Zentrum. Mein Ziel war die Domstraße, in der sich die Universität, das Gericht und das Gefängnis befanden. Direkt gegenüber Letzterem steht die Jacobi-Kirche. Aus ihrer Turmspitze sah ich helle Flammen schlagen, die schnell um sich griffen. Der brennende Turm stand bald wie ein Fanal zum Aufruhr über der Stadt. Solch ein Bild hatte ich in Praxi noch nie gesehen, und ich sehe es noch heute. Es dauerte nicht lange, da fiel mit Getöse und brennenden Balken die alte Betglocke aus dem Jahre 1494 in die Tiefe. Die Atmosphäre war im wahrsten Sinne des Wortes aufgeheizt. War es Zufall, war es Brandstiftung, gab es einen Zusammenhang mit den Geschehnissen vom Vortag? Wilde Spekulationen machten die Runde. Bis heute ist die Ursache des Brandes offiziell nicht geklärt. Selbst der Zeitpunkt des Turmbrandes auf der Info-Tafel an der Kirche wird heute falsch wiedergegeben. Danach brannte er um 1960 ab. Der Turm ist in modifizierter Form erneuert worden. Das Straßenbild von Greifswald dominierten ab 1956 Militär-Mediziner. Ca. 500 Zivilstudenten verließen die Stadt und studierten in anderen medizinischen Ausbildungsstätten. Das Objekt des ehemaligen Luftwaffenlazaretts östlich der Stadt wurde das Internat und der Standort der Militärstudenten. Die Arbeiter- und Bauern-Studenten mussten ihr dortiges Internat räumen und erhielten neue Quartiere in der Nähe des Bahnhofs.
Der Tod der Kindersoldaten
Nach unserer Flucht stand für mich als Kind bereits fest, dass der Krieg verloren ist. Die Befestigungsanlagen der Pommernstellung, auf die wir so stolz waren, hatten keinerlei Einfluss auf die Kriegslage. Die „Schipper“ vom August 1944 hatten sich geirrt, als sie damals sangen: „Und der Iwan, das steht fest, kriegt dann hier den letzten Rest“. Trotzdem wurden die letzten Reserven mobilisiert und die Kriegswende dank des Einsatzes der Wunderwaffen vorhergesagt. Viele Jugendliche, in der Hitlerjugend mit dem Nazibazillus verseucht, meldeten sich freiwillig zum Kampf für ihren geliebten Führer. In der Nähe der Bahnstation Jeeser, an der Strecke zwischen Greifswald und Stralsund, wurde für 14 – 16- Jährige eine Ausbildungsstätte für die Panzerbekämpfung eingerichtet. „Panzervernichtungsabteilung Greifswald“ verkündete das Schild über dem Lagereingang.
Am 26. April 1945 vormittags hörten wir eine heftige Detonation. Beim Blick aus dem Fenster sahen wir über dem Wald eine meterhohe Staubwolke. Bald darauf vernahmen wir Rettungsfahrzeuge mit Martinshorn. Die Katastrophe wurde zur Gewissheit:Bei der Ausbildung an einer Panzerfaust hatte der kriegsversehrte Ausbilder aus Versehen die scharfe Waffe abgeschossen. Durch den Feuerstrahl und die Explosion der Ladung wurden über 20 Jugendliche getötet. Am 28. April wurden sie mit militärischen Ehren auf dem kleinen Friedhof in Kirchdorf in einem Massengrab beigesetzt. Es ist noch heute vorhanden. Inzwischen wurde eine Gedenktafel mit Inschrift angebracht Am 30. April 1945 standen die Russen an dem Massengrab dieser sinnlosen Kriegsopfer – unter ihnen auch Flüchtlingskinder aus Hinterpommern.